Frankfurt liest ein Buch – Kracauers Roman „Ginster“
Seit vier Jahren organisiert der Verein Frankfurt liest ein Buch e.V. Lesefeste in Frankfurt am Main, in deren Zentrum jedes Jahr ein anderes Buch steht, das zum Gesprächsstoff und Gemeinschaftserlebnis der Frankfurter werden soll. Dieses Jahr stand Siegfried Kracauers Romans „Ginster“ im Fokus. Vom 15. bis 28. April 2013 wurden 72 Veranstaltungen organisiert, die Kracauers Roman „Ginster“ zum Thema hatten und zu denen rund 10.000 Menschen kamen.
Auf der Facebook-Seite Frankfurt.de wurden zudem drei Buch-Exemplare verschenkt – an drei lesefreudige Fans, die das Buch gerne lesen und dazu eine kurze Rezension schreiben möchten. Auch ich hatte mich dort als begeisterte Leseratte beworben und habe tatsächlich ein Exemplar gewonnen.
„Ginster“ von Siegfried Kracauer
„Warum beschäftigen sich jetzt alle Leute mit Patriotismus. Seit rechts im Osten ein Stück Land vom Gegner besetzt worden ist, jammern sie, als gehöre es ihnen privat. Früher haben sie sich um das Stück Land gar nicht gekümmert. Ich kann doch keine Gefühle für etwas aufbringen, das ich nicht kenne.“
Der Roman „Ginster“ spielt in einer Zeit, als meine Ur-Großeltern jung waren. Es ist die Zeit des ersten Weltkriegs, der Krieg, der Anfang des letzten Jahrhunderts rund 17 Millionen Menschenleben forderte. Im Jahre 1918, zu Kriegsende, wurde meine Oma geboren. Ginster, der Protagonist des Romans, kommt aus Frankfurt am Main, meiner Heimatstadt, in der ich 60 Jahre später das Licht der Welt erblickte. Nur wenige Generationen liegen zwischen dem Protagonisten Ginster und mir, seiner Leserin. Während ich mir einen Krieg in Europa nicht mehr vorstellen kann, ist Ginster von ihm umgeben. In einem Frankfurt, das der modernen Metropole von heute nur wenig ähnelt.
Zwar drückt sich Ginster erfolgreich vor der Einberufung an die Front und erlebt den Krieg „weitab von den Schlachtfeldern“, dennoch ist der Krieg und Tod für ihn allgegenwärtig.
„Die ganze Welt bestand aus Müttern und Söhnen.“
Dem jungen Mann Ginster liegen Patriotismus und Begeisterung für den Krieg fern, anders als den Menschen um ihn herum. Er beobachtet das Geschehen, wundert sich über die Ereignisse und Gespräche in seinem Umfeld, kritisiert, hinterfragt und dennoch versucht er sich allem möglichst unauffällig zu entziehen.
„In dem Menschenstrom wurde Ginster mitgeschleift. Herren mit dicken Schlipsen, Studenten und Arbeiter sprachen sich an. Unsere Armeen, sagten sie. Wir sind überfallen worden, wir werden es den andern schon zeigen. Sie waren auf einmal ein Volk. Ginster dachte an Wilhelm Tell, das Wir wollte ihm nicht über die Lippen.“
Fast hundert Jahre später schaue ich nun durch die Augen der Romanfigur Ginster. Er ist kein Held, kein Rebell, kein überzeugter Pazifist, nur Beobachter. Ich möchte Ginster schütteln und ihn anschreien: „Sei doch nicht so unerträglich passiv! Tu etwas, verändere, gestalte, lebe!“. Doch Ginster kann mich nicht hören – er ist taub für die Worte seiner Leserin, die in einer Demokratie aufgewachsen ist, sich als Bürgerin von Europa versteht und den Krieg nur aus den Geschichtsbüchern kennt.
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